- Titel: Die Rolle des Sports im europäischen Integrationskonzept
- Autor: MWilkesmann
- Organisation: UNI DORTMUND
- Seitenzahl: 17
Inhalt
- I Das europäische Integrationskonzept von Jürgen Habermas
- arbeitnehmerfreundliche Arbeitsmarktpolitik zB
- gesetzlich geschützte Arbeitsplätze
- Die Rolle des Sports beim Aufbau der Nationen
Vorschau
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Die Rolle des Sports im europäischen Integrationskonzept von Jürgen Habermas1
Roland Binz
Auf den ersten Blick scheint der Titel Unvereinbares zusammenzwingen zu wollen: Habermas und Sport, Legitimationsprobleme einer Konjunktion, wie man in Anlehnung an sein wohl bekanntestes Buch formulieren könnte? Riskieren wir einen zweiten Blick, und wir entdecken einige Gemeinsamkeiten, von denen ich zwei hervorheben möchte. um einen haben beide auf die gesellschaftliche Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland großen Einfluß ausgeübt, Habermas auf die geistigpolitische Verfassung der Republik, der Sport ist aus dem deutschen Alltag nicht mehr wegzudenken. Und zum anderen haben beide ein gemeinsames Thema, und das heißt Europa. wei Differenzen seien auch gleich benannt. Erstens hat Habermas so gut wie nichts über Sport publiziert. Von seinen „Soziologischen Notizen zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit“ aus dem Jahre 1958 können wir getrost absehen. Dort hatte er die Freizeitaktivitäten der Industriegesellschaft, u.a. den Sport, zur bloßen Kompensation für psychische Versagungen in der Berufsarbeit erklärt. Als dieser Aufsatz zehn Jahre später wieder veröffentlicht wurde, distanzierte sich Habermas in einem Nachwort auf bemerkenswerte Weise von seinen früheren Thesen: er habe „in voller
methodologischer Unbefangenheit einige Gedanken notiert“, die er „so nicht wiederholen würde“.2 Diese respektable Selbst-Distanzierung souverän ignorierend, haben einige besonders eifrige Adepten in den 1970er Jahren Habermas und seine Kompensations- bzw. Suspensions-Hypothese zum Kronzeugen einer Kritischen bzw.
Bei diesem Aufsatz handelt es sich um einen leicht überarbeiteten Vortrag, gehalten am 4. 6.2002 an der Deutschen Sporthochschule Köln, veröffentlicht in Annual of CESH 2002, 81-94. 2 Habermas, J., Soziologische Notizen zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit, in: Plessner, H., Bock, H.-E., Grupe, O.: Sport und Leibeserziehung. München 1967, S. 28-46, hier: S. 121
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Marxistischen Sportwissenschaft gemacht, mit zum Teil recht eigenartigen Aussagen, wie man mit dem Abstand von drei Jahrzehnten nüchtern feststellen darf.3 Ernstzunehmende Versuche, Theorieansätze von Habermas für den Sport fruchtbar zu machen, gibt es, soweit ich es übersehen kann, erst seit den neunziger Jahren. So haben einige amerikanische Autoren seine Kommunikationstheorie für die SportHandlungsforschung adaptiert, und Peter Frei hat dasselbe für die Sportpädagogik unternommen. 4
Der zweite Unterschied ist nicht weniger gravierend. Denn während Habermas sich mit Europa und der politisch-kulturellen Bedeutung der Europäischen Union erst seit 1992 beschäftigt,5 praktiziert der Sport Europa seit über 100 Jahren. Oder wie anders soll man die Durchführung „europäischer“ Sportmeisterschaften seit den 1880er Jahren bezeichnen? Jahrzehntelang war diese Demonstration europäischer
usammengehörigkeit eine frappierende Ungleichzeitigkeit. Und während in den fünfziger Jahren die Vorläuferstrukturen der heutigen Europäischen Union gerade auf den Weg gebracht wurden, haben bereits die legendären Europapokalspiele von Real Madrid und anderer Fußball-Teams den europäischen Gedanken millionenfach zum Alltagsthema gemacht, in Gaststätten, am Arbeitsplatz und an anderen
Kommunikationsorten. Und warum bringe ich dennoch Habermas und Sport im Kontext Europa ins Spiel? Man muß nicht alle seine Schlußfolgerungen teilen, und kann trotzdem seinen Argumenten für eine forcierte Fortführung der Europäischen Union eine hohe Plausibilität abgewinnen. Insbesondere seine historischen Begründungen für das Projekt Europa eignen sich sehr zur Deutung des europäischen Sportgeschehens und als Untergrund
Böhme, J.O. Sport im Spätkapitalismus, Frankfurt 1974; Vinnai, Gerhard, Sport in der Klassengesellschaft, Frankfurt 1972 Carr, W. & Kemmis, S.: Becoming critical: Education, knowledge, and action research, London 1986; Tinning, R.: Reading action research: Notes on knowledge and human interests. Quest, 44 (1), 1-14; Morgan, W.: Social Criticism as Moral Criticism: A Habermasian Take on Sports, unveröffentlichtes Typoskript; Morgan hat seinen Artikel in Unkenntnis des Nachworts von 1967 auf die HabermasThesen von 1958 abgestellt. Habermas, J.: „Citizenship and National Identity: Some Reflections on the Future of Europe“, in: Praxis International 12, 1 (1992): 1-19. Dann erst wieder 1995, mit einem Kommentar zu Dieter Grimms Aufsatz „Braucht Europa eine Verfassung?“ in; European Law Journal vol. 1 (3) 1995.
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für sportsoziologische Forschungen. Die hier angeschnittenen Fragen werde ich nun in folgenden Punkten behandeln. unächst werde ich (I.) das Europäische
Integrationskonzept von Habermas in seinen wesentlichen Strukturen skizzieren. Danach werden (II.) jene Anknüpfungspunkte behandelt, wo der Sport den theoretischen Entwurf von Habermas auf ganz eigene Weise konkretisiert und anschaulich macht. Abschließend werde ich (III.) auf einen speziellen Themenbereich eingehen, der bei Habermas zu kurz kommt und ergo seinen europapolitischen Ansatz von aus der Sicht des Sports ergänzt.
I. Das europäische Integrationskonzept von Jürgen Habermas
unächst darf daran erinnert werden, daß Habermas zu keinem eitpunkt vor 1989 mit einer europapolitischen Vision bekannt geworden ist. Erst als der berühmte Mantel der Geschichte die allseits bekannten Aktivitäten entfaltete, wurde auch Habermas erfaßt, und er trat mit ersten Gedanken zur politischen Gestaltung Europas an die Öffentlichkeit. Der im Vortragstitel benutzte Begriff „europäisches Integrationskonzept“ suggeriert daher nicht ganz zurecht, daß Habermas ein kohärentes Programm ausformuliert habe. Tatsächlich hat er von 1992 bis 1996 zunächst nur zu den Aspekten europäische Staatsbürgerschaft und europäische Verfassung publiziert. Im 1998 erschienenen Buch „Die Postnationale Konstellation“ sind wesentliche Teile seiner Essay-Sammlung schon stärker europäisch fokussiert. Seine Präferenz für einen europäischen Bundesstaat als markantester Ausdruck eines europapolitischen Konzepts hat Habermas in einem als „Hamburg-Lecture“ bekannt gewordenen Vortrag des Jahres 2001 begründet, den er auch in Paris, Rom, Madrid und in England hielt. Insgesamt ist dieses politisch brisante Bekenntnis dennoch die logische Konsequenz seiner Beiträge seit 1992 und eugnis der kontinuierlichen Steigerung seines europapolitischen Engagements. Mehr noch: Habermas wirft seine ganze Autorität als weltweit respektierter Wissenschaftler in die Waagschale zugunsten der ‚Vereinigten Staaten von Europa’, wohl wissend, daß der Strom der öffentlichen Meinung ihm mit beträchtlicher