- Titel: Einführung in die Pädagogik
- Autor: Martin Fromm
- Organisation: UNI STUTTGART
- Seitenzahl: 14
Inhalt
- Fromm Einführung in die Pädagogik
Vorschau
1
Fromm: Einführung in die Pädagogik
(Auszug aus dem Skript für die Sitzungen vom 7. und 14.12.2005 – Die Literaturangaben fehlen in diesem Auszug!) Pädagogische Erkenntnis und Wahrheit: Relativität Eng mit dem Namen Dilthey verbunden ist auch die Abkehr von einem historisch invarianten Wahrheitsbegriff. In der Formulierung Dilthey´s:
„Die hervorragenden pädagogischen Systeme beanspruchen, das iel der Erziehung, die Werte der Lehrgegenstände und die Methoden des Unterrichts allgemein gültig, sonach für ganz verschiedene Völker und eiten, zu bestimmen. (…) Solche Ansprüche der Systeme müssen die radikale Neigung befördern, die ein einförmi ges Ideal ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit der Nationen und das Bedürfnis der Staaten dem bestehenden Schulwesen aufdrängen möchte. So wird ein Irrtum in der pädagogischen Theorie zu einer Gefahr für unser Schulwesen.“ (S. 83)
Die Geschichte pädagogischer Systeme stellt sich in dieser Betrachtung als eine Geschichte immer wieder neuer Wahrheiten dar, die jeweils mit dem Anspruch universeller Gültigkeit auftreten. Solche Wechsel zwischen verschiedenen, aber für bestimmte Gruppen oder eiten unbedingten Wahrheiten, lassen sich selbst innerhalb einzelner pädagogischer Traditionen feststellen: So tritt etwa in der herbartianischen Tradition nach der absolut gültigen Wahrheit – was etwa die Anwendung der Kulturstufentheorie für den Unterricht angeht – eine neue, wiederum unbedingt gültige Wahrheit auf. Von der aus betrachtet ist dann der vorherige Standpunkt falsch, Ergebnis fehlerhafter, unvollkommener Auslegung usw. Derartige Wechsel zwischen ´Wahrheiten´ lassen sich für jede Doktrin zeigen, die sich als unbedingt darstellt. Als gefährlich stuft Dilthey derartige Systeme deshalb ein, weil sich mit der Monopolisierung von Wahrheit üblicherweise auch selbstverständlich Überlegenheit über Andersdenkende und die Selbstermächtigung zu deren Unterwerfung und Indoktrinierung verbinden. Dilthey´s zieht aus derartigen Abfolgen sich jeweils als unbedingt gültig darstellender Systeme die Konsequenz:
Es „hat sich jede inhaltliche Formel über den letzten weck des Menschenlebens als historisch bedingt erwiesen“ (ebd. S. 84) „Das Erziehungsideal einer eit und eines Volkes in seiner inhaltlichen Fülle und Wirklichkeit ist historisch bedingt und geartet.“ (S. 94)
2
„Erziehung ist die absichtliche Einwirkung auf das heranwachsende Geschlecht, welche den heranwachsenden Individuen eine bestimmte Form des Lebens, eine be stimmte Ordnung der geistigen Kräfte geben will. Das Erziehungsideal, das sie verwirklichen möchte, ist jederzeit geschichtlich bedingt. war leben eiten und Völker in dem fröhlichen Bewußtsein unbedingter Geltung dieser Ideale. (…) So hat kein Versuch, das sittliche iel der Menschheit zu definieren, das iel der Erziehung daraus abzuleiten, auf Allgemeingültigkeit Anspruch. Die pädagogische Wissenschaft muß Bescheidenheit bei der historischen Schule lernen.“ (S. 130)
Dies Verständnis zeitlich und kontextuell relativer Aussagesysteme ist kennzeichnend für die Pädagogik dieses Jahrhunderts, und zwar nicht nur , was Erziehungsziele betrifft, sondern auch Vorstellungen entwickelten Menschseins, psychischer Gesundheit, brauchbarer Methoden usw. Kurz: Die Möglichkeit invariant gültiger Aussagen wird negiert. (Verweis auf: Diskussion zum labelling approach in der Soziologie, zum medizinischen Krankheitsmodell und zur Antipsychiatrie in der Psychologie/Medizin). Entsprechend sind alle pädagogischen Aussagen und Maßnahmen nicht unter Berufung auf letzte Wahrheiten ohnehin schon gerechtfertigt, sondern als relative, die eben immer auch anders aussehen könnten, der Legitimierung bedürftig. Dabei ergibt sich für die Pädagogik als Wissenschaft vs. Pädagogik als erzieherisches Handeln ein grundsätzliches Dilemma: Während die Pädagogik als Wissenschaft die Bedingtheit und Relativität aller Festlegungen in den Vordergrund stellt, für sie sensibilisiert und die Reflexion der jeweils getroffenen Festlegungen fordert, ist pädagogisches Handeln darauf angewiesen, die Unverbindlichkeit dessen, was alles sein kann, immer wieder zu verlassen, und im jeweiligen Handeln eine Alternative zu wählen. Professionelles pädagogisches Handeln ist nach heutigem Verständnis sehr zur Verwirrung und Enttäuschung all derer, die von der Pädagogik entschiedene und präzise Handlungsvorgaben erwarten – gerade nicht durch wissenschaftlich abgesicherte Postulate und Verfahrensmaximen gekennzeichnet, sondern stellt vielmehr die alltägliche Verhaltenssicherheit in Frage ohne neue Sicherheiten an ihre Stelle setzen zu können (oder zu wollen). Wissenschaftliche Pädagogik bietet für potentielle Auftrags- und Arbeitgeber keine handlichen Lösungen, entlastet damit die jeweils Handelnden nicht von Verantwortlichkeit, sondern betont sie vielmehr. Normenbegründung Ein weiteres Charakteristikum der Pädagogik besteht darin, daß sie sich bei
3 der Begründung von Erziehungsnormen immer wieder sehr nachdrücklich (und nicht nur rhetorisch) damit befaßt hat, wie denn diese Ansprüche gegenüber den Adressaten der Erziehung zu rechtfertigen seien – auch zu den eiten, als sie noch meinte, von unverrückbaren Wahrheiten ausgehen zu können. Gegenüber dem Bild der platten Unterdrückung, das z.B. Rutschky in ihrer „Schwarzen Pädagogik“ entwirft, sind die Reflexionen zumindest der wissenschaftlich arbeitenden Pädagogen seit über zwei Jahrhunderten deutlich differenzierter – wenn auch nicht weniger problematisch. Eine der wesentlichen Denkfiguren ist die der Vormundschaft und der antizipierten Einwilligung des öglings. So geht etwa Herbart etwa davon aus, die pädagogische Verantwortung bestehe darin, den ´zukünftigen Mann beim Knaben´ zu vertreten und ihn mit den Forderungen zu konfrontieren, denen er aus der Erwachsenensicht rückblickend zustimmen würde. Ähnlich heißt es bei iller:
„Der Erzieher betrachtet sich dem ögling gegenüber als denjenigen, der dessen geistiges Vermögen zu seinem Nutzen und Frommen während der eit verwaltet, wo der Besitzer es noch nicht selbst thun kann“ (1856, S. 98).
Hieran ist dreierlei wichtig: 1. Dem Pädagogen/Erziehern wird zugetraut zu wissen, was für den ögling gut ist. 2. Das Verhältnis Erzieher/ ögling wird als ein Vormundschaftsverhältnis verstanden, in dem der Erzieher berechtigt und verpflichtet ist, im Interesse des Klienten/ öglings zu handeln, Forderungen zu stellen usw. 3. Der Pädagoge rechtfertigt sein Handeln durch die antizipierte ustimmung des öglings. Es geht dabei nicht um tatsächliche, explizite Einwilligung/ ustimmung zum eitpunkt des pädagogischen Handelns – da dem ögling noch nicht zugetraut werden kann, notwendige Maßnahmen von überflüssigen zu unterscheiden. So sind auch Ablehnung pädagogischer Ansprüche und offene Auflehnung mit der Idee vereinbar, man handele im Namen und gedanklich vorweggenommenen Wunsch des zukünftigen Erwachsenen. Schwierigkeit und Problematik, mit der antizipierten ustimmung von Heranwachsenden zu arbeiten, die jetzt noch nicht wissen (können), ob sie einmal wollen werden, was ihnen der Pädagoge heute anbietet/abfordert, zeigt